Fiona Tan: Geografie der Zeit
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Die Künstlerin Fiona Tan beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Formen der Zeit und regt in ihrer Ausstellung im MMK dazu an, über die Individuen in einer aus den Fugen geratenen Welt reflektieren und wirft zentrale Fragen zur menschlichen Identität im 21. Jahrhundert auf: Wie sehen wir uns selbst? Was bestimmt unsere Perspektive auf das Andere?
Tan besucht, um die Folgen der globalisierten Welt zu untersuchen, Städte an denen sich der Verfall und die Verwüstung in das Stadtbild gefressen haben und dokumentiert dies. In "Ghost Dwellings" zeigt sie Lagerbox-ähnliche Räume auf, in denen jemand zu wohnen scheint. Beim Betreten dieser Räume durch hochgezogenene Rolläden, erlebt dies der Betrachter wie ein Voyeur, denn er scheint in die Intimsphäre eines völlig Fremden zu treten und sich unbehagen zu fühlen. An die Wände sind Videoarbeiten von Städten projiziert, die von Verwüstung gekennzeichnet sind.
Zeit, Erinnerung und Identität spielen in ihren Arbeiten eine zentrale Rolle. Sehen und Gesehen werden, Blick und Gegenblick, greifen ineinander über und werden zu einer Einheit. So sieht man auf zwei Filmleinwänden jeweils eine Person. Ob es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt, ist nicht klar. Über zehn Jahre filmte Tan nämlich eineiige Zwillinge. Und trotzdem weiß der Betrachter noch immer nicht, ob es wirklich um den Zwilling handelt, denn im Film ist er immer etwas jünger oder älter. Man beginnt also genauer hinzusehen. Jedes noch so kleine Detail des Gegenübers kann von Bedeutung sein. Tan zeigt, dass kein Mensch mit dem identisch ist, was er am Tag zuvor noch war. Tans Kunst handelt von Zeit ihrem Verstreichen und sie macht Zeit erfahrbar. Ein Symbol der Zeit ist für sie der Wasserfall: er zeigt die Zeit, die vergeht und das, was man dabei verliert.
Ihre filmischen Bilder und Installationen erzählen davon, wie die eigene Erinnerung unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt und lösen die Grenzen zwischen persönlichem und kollektiven Gedächtnis, Innen und Außen, Fiktion und Wirklichkeit auf. Von Interesse scheint die Verflechtung persönlicher Identität und kultureller Prägung zu sein. Tan gibt dem Betrachter die Möglichkeit, über den Fluss der Zeit sowie die Unschärfe von Erinnerungen zu reflektieren und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen.
In der Doppelprojektion "Rise an Fall“ zeigt sie zwei Frauen, die sich am selben Ort befinden, aber nicht gleichzeitig und verschiedenen Handlungen nachgehen. Es ist der Betrachter, der entscheiden muss, ob die eine über ihre Vergangenheit oder die andere über ihre Zukunft nachdenkt. Es geht um Erinnerung und um Identität.
Wenn es um Leerstellen der Vergangenheit geht, lässt Tan ihrer Fantasie freien Lauf und füllt sie mit ihrer eigenen Vorstellungskraft, wie in der Videoinstallation "Nellie“, in der sich die mit dem Leben von Cornelia van Rijn, der unehelichen Tochter Rembrandts auseinandersetzt. Die in Vergessenheit geratene Frau, zwar nicht mehr greifbar, wird filmisch wiederbelebt. Nellie zog es nach dem Tod ihres Vaters in die niederländische Kolonie Batavia, dem heutigen Jakarta. Tan zeigt die Frau, angestrahlt in einem Licht, wie es die niederländischen Meister einzufangen wussten, zwischen Langeweile und Tagtraum. Ihr blau-weißes Kleid im Tropenmuster dient auch als Tapete und lässt die Frau zum Teil des Inventars werden. Sie befindet sich in einem Schwebezustand zwischen realer und imaginierter Welt.
>> Der Betrachter muss sich auf die Ausstellung einlassen. Die Arbeiten sind eine Reflexion der Themen wie Transit, Entgrenzung und Verlust von Verortung der Identität und können ganz subjektiv gedeutet werden und so im Kopf ganz neue Welten eröffnen. Doch nicht jeder mag die Ausstellung als Reflektion einer aus den Fugen geratenene Welt begreifen und sich mit Fragen zur Identität auseinanderzusetzen.
Fiona Tan: Geografie der Zeit
MMK 1
17. September 2016 bis 15. Januar 2017